Leseprobe


Anouk versteht


Vor sehr, sehr langer Zeit lebte einmal ein Mädchen, das hieß Anouk. Zu der Zeit gab es keine Autos, Flugzeuge, Züge, keine Häuser, Computer oder Handys. Anouks Volk lebte in unterschiedlich großen Gemeinschaften zusammen. Sie wohnten in Zelten mitten in der Natur, die noch ganz in Ordnung war. Die Luft war sauber, das Wasser in Seen und Flüssen frisch und klar. Es gab auch keine Schulen, in die die Kinder gehen mussten, was aber nicht bedeutete, dass sie nichts lernten. Im Gegenteil, wenn die Kinder dort etwa 14 Jahre alt waren, konnten sie sich selbst versorgen und, wenn sie es wollten, leben wie die Erwachsenen. Sie lernten von ihren Eltern, wie man Nahrung sammelt und schmackhaft zubereitet, welche Pflanzen Heilkräfte besaßen, welche giftig waren. Sie konnten selbst Zelte bauen und auf handgefertigten Instrumenten wunderschön musizieren. Sie lernten auch, was für ihr Zusammenleben wichtig war: dass man sich um Alte und Kranke kümmert und gemeinsam auf die Kleinsten aufpasst, dass man mit allem in der Umgebung respektvoll umgeht.

Um dieses Wissen weiterzugeben, gab es den Kreis der Weisen. Sie beantworteten alle Fragen, die ihnen jemand aus der Gemeinschaft stellte. Abends bei Sonnenuntergang war ihr Zelt geöffnet, und wer ein Anliegen hatte, durfte eintreten.

Diesmal stand Anouk vor dem Zelt. Sie war sehr aufgeregt, wusste einfach nicht weiter. Sie hatte etwas erlebt, was sie überhaupt nicht verstehen konnte. Deshalb war sie jetzt hier. Sie wollte die Weisen um Hilfe bitten.

Der Eingang zum Zelt war geöffnet, was bedeutete, dass man nun eintreten durfte. Langsam ging Anouk durch die Öffnung in das Zelt. Dunkelheit empfing sie, es brannten nur zwei Fackeln. Ein würziger Duft zog durch das große Zelt, der von einem kunstvoll verzierten Räuchergefäß kam, auf dem Salbeizweige lagen.

Die Weisen saßen darum herum in einem Halbkreis. Sie blickten Anouk an, und eine alte Frau mit einem Gesicht, in das das Leben unzählige Falten gemalt hatte, sprach sie freundlich an: „Was ist dein Anliegen an uns, Anouk? Sprich!“

Anouk schluckte einmal. Sie hatte großen Respekt vor den Weisen und wollte alles richtig machen.

„Ich habe heute etwas erlebt, das ich überhaupt nicht verstehe“, begann sie. „Vielleicht könnt ihr mir helfen.“ Die alte Frau nickte ihr auffordernd zu, und Anouk erzählte ihre Geschichte.

„Heute Morgen war ich alleine unterwegs. Ich wollte einmal sehen, wie es hinter dem großen See aussieht. Also machte ich mich auf den Weg, umrundete den See und kletterte auf die Hügel, die dahinter liegen, selbst noch auf den felsigen Berg. Da bin ich vorher noch nie gewesen.“ „Dieses Land gehört auch nicht mehr zu unserer Gemeinschaft“, warf ein älterer Mann ein,  „wir halten uns mehr im Süden auf.“ Anouk nickte. „Das habe ich gemerkt, denn als ich eine Rast gemacht habe, habe ich mich in das Gras gesetzt und an einen Felsen gelehnt und die Umgebung beobachtet. Auf einmal kamen Menschen angelaufen, sechs Männer und eine Frau. Sie liefen hinter einer Bergziege her, und als die Ziege stehen blieb, schossen die Männer mit Pfeilen auf sie!“ Anouk wischte sich zwei Tränen aus den Augen. Sie war immer noch entsetzt über das, was sie gesehen hatte. „Ich konnte mich nicht bewegen und einfach weglaufen“, sprach sie weiter, „und so sah ich, dass die Männer die getötete Ziege zu der Frau schleppten. Sie schnitten der Ziege den Bauch auf, schnitten etwas heraus und steckten es auf Spieße, die sie ins Feuer hielten. Der Geruch war für mich fast unerträglich, aber das Schlimmste war: Sie aßen das!“

Anouk musste sich schütteln bei dem Gedanken daran. „Wie kann man so etwas tun, was waren das für grausame Menschen?“, fragte sie, „ich denke, alle Tiere sind unsere Freunde!“

Anouk schwieg erschöpft.

„Setz dich zu mir, Kind“, sprach die alte Frau sie an. Sie reichte ihr einen Becher mit warmem Tee, der aromatisch duftete. Dankbar nahm Anouk einen großen Schluck. „Könnt ihr mir helfen, das zu verstehen?“ Sie sah die Weisen fragend an.

Einer der Weisen erhob seine Stimme und sprach dann zu Anouk: „Menschen, die Angst haben, brauchen etwas, damit sie sich stark fühlen. Sie töten Tiere, um ihre Macht zu demonstrieren. Sie essen sie, weil sie glauben, dann selbst stärker zu werden.

Wir ernähren uns von den Früchten der Erde, das hält uns gesund. Und wir haben keine Angst.

Ich will dir etwas Wichtiges verraten: Wenn du nur einen Menschen auf der Welt findest, der dich lieb hat, brauchst du keine Angst zu haben und bist reicher, als wenn alle Schätze dieser Erde dir gehörten.“

Anouk nahm die Worte des Weisen auf, und sie verstand. Ein glückliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Sie atmete tief ein. Wo waren ihre Sorgen und Ängste geblieben? Alles fühlte sich leicht wie eine Feder an. Sie blickte die Weisen an und sagte: „Danke, dass ich verstehen durfte.“ Die Weisen nickten ihr gütig zu, und Anouk verließ vollkommen zufrieden das Zelt. ©


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