Leseprobe
Der etwas andere König
In einem fernen Land lebte ein Volk, das auf viele kleine Dörfer verteilt war. Weite Wiesen und Felder lagen zwischen den einzelnen Siedlungen, Waldstücke, vereinzelte Seen, und auf einem kleinen Berg inmitten dieser idyllischen Landschaft stand ein Schloss. Es war ein imposantes Bauwerk mit vier hohen Türmen, unzähligen Räumen und sieben prunkvollen Sälen, denn der frühere Herrscher wollte jeden Tag in der Woche in einem anderen Saal speisen. Ein großer Garten war vor dem Eingang angelegt worden, und bunte Rosensträucher säumten die Wege, die durch den Garten führten. Ein kunstvoller Springbrunnen bildete den Mittelpunkt. Ein goldener Frosch saß dort auf einem glänzenden Stein, und kristallklares Wasser lief aus seinem Maul in ein reich verziertes Marmorbecken. Viele mächtige Könige hatten bereits in diesem Schloss gelebt und das Land regiert.
Vor kurzer Zeit erst war der letzte König gestorben, und da er keine Kinder hatte, wurde ein entfernter Verwandter von ihm ausfindig gemacht und zu seinem Nachfolger bestimmt. Es gab auch einen Berater, der dem König beim Regieren half und ihm berichtete, was im Lande vor sich ging.
Dieser Berater erschien nun ganz aufgeregt vor dem König und fragte ihn: „Habt ihr schon gehört, Majestät, was die Menschen erzählen?“ Der König schüttelte den Kopf und sagte: „Du wirst es mir sicher gleich berichten.“ Und der Berater berichtete. „Überall im Land tauchen Menschen auf, wie sie hier noch nie jemand gesehen hat. Sie haben dunkle Haut, dunkle Haare und braune Augen. Sie kommen von weit her, erzählen sie, und sie haben Hunger und kein Dach über dem Kopf. Manche Bauern lassen sie in ihren Scheunen übernachten, aber so geht das doch nicht. Und man sagt, einige dieser fremden Kinder hätten sogar Äpfel gestohlen – ein Skandal!“
„Da hast du Recht“, stimmte ihm der König zu, „es ist wirklich ein Skandal, dass diese armen Menschen etwas zu Essen stehlen müssen. Wir haben doch wohl alle genug, um andere einzuladen.“ Der König machte ein grimmiges Gesicht. „Morgen zur Mittagsstunde soll es eine Versammlung geben auf dem Marktplatz. Wir müssen das besprechen.“
Der Berater eilte hinaus und gab allen Menschen Bescheid, dass der König am nächsten Tag zur Mittagszeit zu seinen Untertanen sprechen würde. Obwohl - das Wort „Untertan“ kam im Wortschatz des neuen Königs gar nicht vor; er sprach nur von Mitarbeitern oder der Bevölkerung.
Am nächsten Tag versammelten sich viele Menschen auf dem Marktplatz. Sie waren es nicht gewohnt, dass ein König zu ihnen kommt, um mit ihnen zu sprechen. „Liebe Menschen unseres Landes, bitte erzählt mir von den Fremden, damit ich mir ein Bild von der Lage machen kann“, sprach der König sie an. Und die Menschen erzählten von den Fremden, die aus weit entfernten Ländern geflohen waren, weil sie dort um ihr Leben fürchten mussten. „Diese Flüchtlinge – sie haben kein Zuhause, kein Essen. Die Flüchtlinge schlafen unter Brücken, unter Bäumen. Die Flüchtlinge …“ „Stopp!“, rief der König verärgert. „Was soll dieses Wort „Flüchtlinge“? Habt ihr keinen Respekt vor fremden Menschen?“
Die Menge wurde still und blickte ihn erstaunt an. „Das sind Menschen wie du und ich, die Schlimmes erlebt haben, das sind keine „Linge“! Er sprach den Lehrer der Dorfschule an: „Du da, bist du ein Lehrling?“ Er zeigte auf den Bäcker. „Und bist du ein Backling? Ich erwarte, dass ihr diesen Menschen mit Gastfreundschaft begegnet. Ich zeige euch gerne, wie man das macht, und wenn jeder gibt, was er entbehren kann, haben wir bestimmt genug für alle.“
Er rief seinen Berater zu sich. „Geh und verkünde, dass alle Fremden, die noch kein Dach über dem Kopf gefunden haben, im Schloss wohnen können. Da ist genug Platz.“ Der Berater wollte seinen Ohren nicht trauen. „Aber wo sollen wir Speisen für so viele Menschen hernehmen? Und wir haben nicht genug Decken. Und …“ „Und – und – und!“ Der König verlor langsam die Geduld. „Geh in den Schlosspark und hole den goldenen Frosch. Lass ihn einschmelzen und verkaufe das Gold. Dann hast du genug Geld für alles Nötige.“
Ein kleines Mädchen trat aus der Menge hervor und hielt dem König seine Puppe hin. „Hier, König, wenn ein Kind traurig ist, weil es seine Heimat verlassen musste, kannst du ihm meine Puppe schenken.“ Der König schaute das Mädchen an und war für einen Moment sprachlos. Dann nahm er die Puppe entgegen und hielt sie hoch, dass alle sie sehen konnten. „Dieses Mädchen zeigt uns, was Gastfreundschaft bedeutet. Nehmt euch ein Beispiel daran!“ Und zu dem Mädchen sagte er: „Ich danke dir von Herzen, mein Kind. Du darfst jederzeit zum Spielen ins Schloss kommen, wenn du möchtest; du bist mir immer willkommen.“
In den nächsten Tagen zogen viele Menschen in das Schloss ein. Sie wohnten in den schönen Räumen, und für alle war genug Essen da. Viele Menschen aus den Dörfern brachten vorbei, was sie entbehren konnten, Nahrungsmittel, Kleidung, Spielzeug – es kam allerhand zusammen. Das kleine Mädchen kam jeden Tag vorbei und spielte mit den fremden Kindern, die so bald gar nicht mehr fremd waren. Wenn die Sonne besonders heiß schien, durften sie in dem ehemaligen Springbrunnen spielen und sich mit dem kühlen Wasser nass spritzen. Und an den anderen Tagen bastelten alle Kinder gemeinsam große bunte Buchstaben, die der König höchstpersönlich über dem Eingang zum Schloss anbrachte. Dort konnte nun jeder lesen: DAS EINZIGE, WAS HIER HERRSCHT, IST MENSCHLICHKEIT! ©
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